Endstation Todeszelle statt Präventivbehandlung für psychisch Kranke?

U.S.A. – Land der Freiheit und Zuhause der Inhaftierten 2002 entschied der U.S. Supreme Court in Atkins vs. Virginia, dass Menschen mit geistiger Retardierung nicht mehr hingerichtet werden dürfen. Doch wie definiert man geistige Retardierung? Hat dieses Urteil eine Relevanz für psychisch Kranke? Genau das ist der springende Punkt.

Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man nun psychisch krank oder geistig retardiert ist. Im Falle einer Straftat obliegt es dem jeweiligen Bundesstaat, wie er eine geistige Retardierung des Angeklagten beschreibt und festlegt.

Die Bestimmung des Intelligenzquotienten alleine besagt noch nicht, ob eine Person nun als geistig retardiert einzustufen ist. Es ist auch entscheidend, ob alltägliche Dinge wie beispielsweise regelmäßiges Waschen und das Nachgehen einer konstanten Tätigkeit bewältigt werden können. Die American Psychiatric Association (APA) hatte in ihrem Standardwerk bislang einen IQ von 70 oder darunter angegeben, woran sich auch Atkins v. Virginia orientierte. In der  Neuauflage (DSM-V) wurde dieser Passus ausgelassen. Nun mag es noch einfacher sein, diese Menschen hinzurichten.

DSM-V ist ein Buch für Psychiater und dient der Identifizierung und Diagnosefindung. Sinn und Zweck ist sicher nicht, die Todesstrafe zu untermauern. Marvin Wilson wurde letztes Jahr in Texas exekutiert. Sein IQ lag bei 61. Kein Hindernis,ihn nicht hinzurichten. Der Bundesstaat hat entschieden.  Das ist kein Einzelfall. Unter den amerikanischen Todeskandidaten wird man einige finden, die als geistig retardiert einzustufen wären.  Die Auslegung ist recht variabel und somit schwierig zu objektivieren.

Das zweite Zuhause vieler psychisch kranker Menschen in den U.S. ist das Gefängnis. Warum? Präventivmaßnahmen scheinen nicht an der Tagesordnung zu stehen. Zum Beispiel begehen einige Menschen mit unbehandelter Schizophrenie etc. aufgrund ihrer Erkrankung eine Straftat. Nicht weil sie per se gewalttätig sind, sondern weil sie nicht behandelt werden.  Und was passiert dann mit ihnen? Sie landen im Gefängnis und nicht in der Psychiatrie. Trauriger Alltag. Wie „The News&Observer“ kürzlich berichtete:  In North Carolina suchte eine Mutter um Hilfe. Ihr Sohn hat eine bipolare Störung und benötigte Medikamente.  Doch statt einer adäquaten Behandlung  durfte James Franklin Jr. nur den Gefängnisalltag kennen lernen, da er gewalttätig wurde. Eine Behandlung unterblieb.

In den Gefängnissen North Carolinas sitzen Tausende von psychisch Kranken ein, die teilweise Wochen und Monate auf eine Behandlung warten. In den anderen Bundesstaaten sieht es nicht anders aus. Nationale Studien schätzen, dass rund 15-20 Prozent aller amerikanischen Häftlinge ernsthaft geistig krank sind.  Psychotherapeut Adam Adams, welcher Gefangene in Wake County beurteilt, äußert, dass das Gefängnis die größte psychiatrische Klinik der U.S.A. geworden ist.

Doch es gibt einen Lichtblick. Im ganzen Land gibt es verschiedene Programme, die Polizisten im Umgang mit psychisch Erkrankten schulen. So dass ein James Franklin Jr. dann nicht direkt inhaftiert, sondern in einer Psychiatrie o.Ä. behandelt wird. Um überhaupt solche Vorfälle auf ein mögliches Minimum zu reduzieren, müssen psychisch Kranke auch entsprechend therapiert werden. Viele von ihnen haben keine Familie und Freunde mehr, die sich um sie kümmern. Teils sind sie obdachlos und sie fallen leider erst wirklich auf, wenn sie straffällig geworden sind.  Geistige Erkrankungen wie Schizophrenie, manische Depression etc. müssen genauso ernst genommen und folglich fachgerecht behandelt werden wie körperliche Erkrankungen. Die Akzeptanz der Bevölkerung ist dafür notwendig. Man darf nicht einfach über psychisch Kranke hinwegsehen, sie müssen therapiert und ernst genommen werden. Häufig ist es noch ein Tabu und dies macht es nicht einfacher, dass sich alle Betroffenen behandeln lassen bzw. das Umfeld des jeweiligen Menschen  der Behandlung positiv gegenüber steht. 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele Straftaten erst gar nicht stattgefunden hätten, wenn die Person im Vorfeld richtig therapiert worden wäre.  Sind sie dann einmal im Gefängnis, so muss man zumindest im Falle ihrer Entlassung sicherstellen, dass sie nicht zum Dauergast werden. Somit ist das MANOS Programm sehr begrüßenswert, das die Behandlung und Medikation der Entlassenen weiterhin gewährleistet. Die Erfolge können sich sehen lassen. Nur 6,2 Prozent der nachbetreuten Ex-Häftlinge werden erneut straffällig. Es gibt einige Initiativen und Programme in den U.S.A., die versuchen, den Umgang mit psychisch Erkrankten in der Strafjustiz in die richtigen Bahnen zu leiten.  Es ist noch ein weiter Weg bis dahin, doch immerhin ein Anfang.

Zu der Frage, wie sich das Urteil Atkins vs. Virginia im Hinblick auf psychisch Kranke auswirkt: Das ist ein weites Feld. Wie bereits erwähnt, muss man zwingend geistige Retardierung per definitionem abgrenzen. Kann man einen Menschen zum Tode verurteilen, der im Wahn gemordet hat? Die Vergangenheit hat gezeigt: Man kann. Leider. Versteht der Beschuldigte überhaupt, wessen ihn man anklagt und ist er auch fähig, mit seinem Anwalt zu kommunizieren? An diesem Punkt sind viele psychisch erkrankte Personen häufig benachteiligt. Kann er beweisen, dass er zur Tatzeit des Verbrechens erkrankt war? Weiß er, was er gesteht? Mit Hilfe von DNA-Tests wurden in den U.S.A. bereits über 300 Menschen entlassen, die unschuldig inhaftiert worden waren. Laut Innocence Project führten falsche Geständnisse in rund 25 Prozent der Fälle überhaupt erst zu Verurteilungen.

Man denke nur an den schwedischen Serienmörder Sture Bergwall, dem ganze 33 Morde zur Last gelegt wurden. Ein Skandal, der seinesgleichen sucht. Damals wie heute; wurden sie doch nun nach und nach aufgehoben. Sicher, Bergwall war kein unbeschriebenes Blatt. Vor seinem Prozess war er bereits mehrfach in psychiatrischen Einrichtungen, u. a.  wegen Drogenkonsums und Gewaltverbrechen, teils mit sexuellem Hintergrund. Doch die Morde hat er nicht begangen, wie sich nach über 20 Jahren Gefängnis herausstellte. Er hatte alle 33 zugegeben, unter Drogeneinfluss.

Psychisch Erkrankte sind definitiv gefährdet, eher ein Verbrechen zu gestehen, welches sie nicht begangen haben. (Im Falle von Bergwall ist es jedoch eher auf den Drogenkonsum zurückzuführen.) In den U.S.A. darf kein Mensch exekutiert werden, der nicht versteht, was seine Exekution bedeutet. Doch schon so einige Todeskandidaten haben kurz vor ihrem Tod einen nicht sehr klaren Eindruck gemacht. Alles nur gespielt? Wer weiß das schon. Vielleicht der eine oder andere. Sie haben mein vollstes Verständnis.

Man kann also festhalten, dass geistig Retardierte in den U.S.A. bessere Chancen haben, nicht die Todesstrafe zu bekommen als psychisch Kranke. Es gibt viel Interpretationsspielraum und obliegt letztlich den einzelnen Bundesstaaten. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben es nicht immer leicht im Land der Freiheit, müssen sie doch allzu oft hinter Gittern leben.  Nehmen wir mal den Fall Andre Thomas. Im landläufigen Sinn würden ihn viele schlicht weg als „verrückt“ bezeichnen.  Das Land Texas findet ihn noch „normal“ genug, um die Todesstrafe bekommen zu können.

Ein kurzer Abriss: Schon als Kind litt Thomas unter akustischen Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Alkoholabusus. Er tötete schließlich seine Exfrau, schnitt ihr die Lunge heraus, ihren beiden Kindern jeweils das Herz, stieß sich ein Messer in die Brust und wollte auch sterben. Doch er starb nicht. Da nahm er die Organe mit. Er war völlig verwirrt, telefonierte und bat um Hilfe. Er hatte seine Exfrau für Jezebel, eine Frau mit verwerflicher Moral, gehalten. Er gestand seine Tat im Grayson County Gefängnis und stach sich dort mit seinen Fingern ein Auge aus. Schizophrenie wurde diagnostiziert, er wurde medikamentös behandelt und dann wurde ihm der Prozess gemacht.  Schließlich landete er im Todestrakt. Dort stach er sich das noch verbliebende Auge aus und aß es.  Möge sich jeder Leser sein eigenes Urteil bilden, wie „gesund“ Andre Thomas wirklich ist und inwiefern man ihn für seine Tat zur Verantwortung ziehen kann. Zumindest ist er nicht geistig retardiert. „Dark Knight“ Shooter James Holmes plädiert darauf, dass er nicht schuldig ist, weil er krank ist. Wir werden sehen.

Die Todesstrafe ist weltweit noch nicht abgeschafft. Auch in einem Land wie den Vereinigten Staaten, welches uns in vielerlei Hinsicht nicht so fremd vorkommen mag, ist sie noch in vielen Bundesstaaten existent. Im Hinblick auf das Atkins vs. Virginia Urteil geht es darum, wann ein Mensch aufgrund seiner geistigen Verfassung nicht exekutiert werden darf. Doch es geht um geistig Retardierte. Was ist zum Beispiel mit den vielen Menschen, die unter Drogen- oder Alkoholeinfluss einen Mord begangen haben? Zum Zeitpunkt ihrer Tat waren sie nicht voll zurechnungsfähig. Nicht selten bekommen sie die Todesstrafe.

Wenn man die Todesstrafe aus der Perspektive eines Abolitionisten betrachtet, ist die ganze Diskussion absurd. Doch leider muss man auf die verschiedensten Gründe eingehen, warum Menschen von diversen Ländern getötet werden. Es ist Realität. Wir dürfen unsere Augen nicht einfach davor verschließen, sondern müssen aktiv dagegen vorgehen. Kein Mensch  sollte exekutiert werden. Ob er nun geistig retardiert oder im vollem Besitz seiner geistigen Fähigkeiten und einem IQ von 150 einen Mord begeht. Es darf hierbei nicht um Sympathie gehen. Natürlich sind viele zum Tode Verurteilte nicht unschuldig und sie müssen auch bestraft werden und können zum Schutz der Gesellschaft nicht einfach alle frei herumlaufen.  Die Todesstrafe als gesetzlich zulässige Maßnahme ist grausam und menschenunwürdig. Selbst wenn einige Täter auch grausam gehandelt haben, ist dies keine Legitimation. Die Zeiten von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sollten endlich der Vergangenheit angehören. 

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