Neue Methoden für bessere Koma-Diagnose: Patienten/-innen mit ihrem Namen anzusprechen gibt Hinweise auf ihre Bewusstseinsfunktion

Patienten/-innen in Koma-ähnlichen Zuständen mit ihrem Namen anzusprechen ist ein einfaches und wirksames Hilfsmittel zur Beurteilung ihrer verbliebenen Bewusstseinsfunktionen. Der eigene Name kann sowohl im sichtbaren Verhalten als auch in messbaren Gehirnaktivitäten Reaktionen auslösen, die bei weniger persönlichen Reizen ausbleiben. Das gibt entscheidende Hinweise auf noch vorhandene Rehabilitationspotenziale, die Prognose und die optimale Behandlung. Zu diesem Ergebnis kommen Studien belgischer und chinesischer Forscher, die heute auf dem Europäischen Neurologenkongress in Prag vorgestellt wurden.

Prag, 11. Juni 2012 – „Ein einfaches Hilfsmittel, nämlich das Aussprechen des Namens eines Menschen in einer Koma-ähnlichen Situation, kann die Diagnose wesentlich treffsicherer machen, weil verbliebene Bewusstseinsreste darauf viel zuverlässiger reagieren als auf unpersönliche Reize“, berichtete Prof. Gustave Moonen (Lüttich, Belgien) heute auf dem 22. Meeting der Europäischen Neurologengesellschaft (ENS) in Prag. Die Unterschiede zeigen sich sowohl in sichtbarem Verhalten der Patienten/-innen als auch in der messbaren Aktivierung von Gehirnregionen, die nach heutigem Wissen für die Selbstwahrnehmung zuständig sind. Prof. Moonen, Generalsekretär der ENS: „Je mehr Bewusstsein noch vorhanden ist, desto besser ist die Prognose und desto intensiver sind die Rehabilitations-Bemühungen. Wir sind deshalb sehr froh darüber, ein Instrument gefunden zu haben, das uns eine deutlich zuverlässigere Einordnung eingeschränkter Bewusstseinszustände erlaubt als bisher.“
Verbliebene Bewusstseinspotenziale können nur durch intensive Rehabilitation aktiviert werden. Werden Patienten/-innen, die auf die richtige Beurteilung ihres Zustands von außen angewiesen sind, als weniger bewusst eingestuft als sie tatsächlich sind, steigt das Risiko, dass angemessene Rehab-Bemühungen weniger intensiv eingesetzt oder unterlassen werden. Prof. Moonen: „Die Konsequenzen einer korrekten Dekodierung des Bewusstseinszustandes reichen vom angemessenen Pflegemanagement über die geeigneten Therapien und Rehabilitationsmaßnahmen bis zu den schwierigen ethischen Fragen nach dem Punkt, an dem wir das Ende des menschlichen Leben ansetzen und weitere Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Organismus beenden.“
Wissenschaftliche Nutzung des „Cocktail-Party Effekts“
Der neurologische Hintergrund dieses diagnostischen Hilfsmittels: Das Reagieren auf den eigenen Namen, so Prof. Moonen, „scheint die gehirnfunktionale Entsprechung des bekannten ‚Cocktail-Party Effekts’ zu sein. Fällt in einem scheinbar nicht unterscheidbaren Wirrwarr von Stimmen unser Name, werden wir sofort hellwach und darauf aufmerksam, offenbar aber nur in dem Ausmaß, indem unser Ich-Bewusstsein aktiv ist. Die Messung der Aktivität dieser Hirnzone lässt uns daher auch bei kommunikationsunfähigen Menschen auf den vorhandenen Grad des Bewusstseins schließen.“
Schwierige Beurteilung der Gehirn- und Bewusstseinsfunktionen in komatösen Zuständen
Die exakte Beurteilung der Gehirn- und Bewusstseinsfunktionen von Patienten/-innen in unterschiedlichen komatösen Zuständen ist auch für erfahrene Spezialisten/-innen eine große Herausforderung. Nach schweren Gehirnverletzungen etwa durch Traumata oder Schlaganfälle sind Patienten/-innen oft nicht in der Lage zu kommunizieren.
Die moderne Medizin beschreibt hier mehrere Stadien. Das Koma wird als ein Zustand völliger Bewusstlosigkeit definiert, der eine Art Notabschaltung des Gehirns zum Zweck der Regeneration und Selbstheilung darstellt, aus dem das Erwachen aber nicht sicher ist. Im Zustand der „Wachheit ohne Kontaktaufnahme“ („Unresponsive wakefulness“, früher „Wachkoma“ bzw. „vegetative state“) öffnen und schließen davon Betroffene zwar im Schlaf-Wach-Rhythmus die Augen, kommunizieren aber nicht. Im „Zustand mit minimaler Kontaktaufnahme“ („minimal responsive state“, früher „Zustand minimalen Bewusstseins“ bzw. „minimal conscious state“) reagieren Betroffene bereits auf Impulse von Außen.
Die Unterschiede auszumachen ist oft schwierig, weshalb es für Patienten/-innen in Zuständen eingeschränkten Bewusstseins auch keine zuverlässigen Zahlen gibt. Werden Daten aus Amerika hochgerechnet, ergibt das für die EU rund 33.000 bis 72.000 Patienten/-innen im Zustand der Wachheit ohne Kontaktaufnahme.
Bewusstseinsabhängiges Hören des eigenen Namens
Der erste Schritt der Forscher/-innen bestand in der Untersuchung gesunder Probanden/-innen im Wachzustand sowie im Zustand unterschiedlich starker Sedierung mittels funktionaler Magnetresonanztomographie (fMRI). Dabei zeigte sich, dass die Nennung des eigenen Namens im Gegensatz zu fremden Namen einen wesentlichen zusätzlichen Bereich (mediales präfrontales Gehirnareal) aktivierte, dieser Effekt nahm allerdings mit schwindendem Bewusstsein ab.
Der eigene Name als Spur zum Ich-Bewusstsein
Auf dieser Erkenntnis bauten weitere Studien der Wissenschaftler/-innen um Prof. Steven Laureys (Coma Science Group, Lüttich, Belgien) und Dr. Hiebo Di (Hangzhou, China) auf. Es zeigte sich, dass das Ausmaß, in dem das Hören des eigenen Namens das Hörzentrum des Gehirns aktiviert, prinzipiell einen Indikator für die Rehabilitationschancen von Menschen im vegetativen oder minimal-bewussten Zustand darstellt. Prof. Laureys: „Wir stellten jedoch enorme Abweichungen der erregten Gehirnregionen zwischen den einzelnen Scan-Zeitpunkten fest: Das hörende Bewusstsein kann offensichtlich abdriften und wieder auftauchen. Es muss also öfter untersucht werden, damit vorhandene Potenziale nicht übersehen werden.“
Auch in einfachen klinischen Tests bringt das Nennen von Patienten/-innen-Namen einen großen Unterschied. Von 86 post-komatösen Patienten/-innen im Zustand der „Unresponsive wakefulness“ („Wachheit ohne Kontaktaufnahme“) oder im minimal-bewussten Zustand, die mit ihrem Namen und zum Vergleich mit einem Glockenklang stimuliert wurden, reagierten 37 mit Augen- oder Kopfbewegungen: Davon 34 auf ihren Namen, nur 20 auf die Glocke – eine Reihe auf beides. „Der Name ist also zur Ermittlung der Hörfunktion bewusstseinsgestörter Menschen weit besser geeignet als ein neutraler Klang“, so Prof. Laureys.
In einem weiteren Test sprachen die Forscher 30 Patienten/-innen, die als minimal-bewusst, aus dem minimal-bewussten Zustand erwacht, oder im „vegetativen Zustand“ („Wachkoma“) befindlich diagnostiziert waren, mit dem eigenen Namen an und forderten sie auf, die Hand zu heben. Bei immerhin fünf Patienten/-innen, davon zwei der im ‚vegetativen Zustand’ Geglaubten, zeigte der fMRI-Scan eine Aktivierung des zuständigen Bewegungszentrums der Gehirnrinde (Motor-Cortex). „Ein eindeutiges Zeichen für hochstehende kognitive Funktionen, die durch die konventionelle Beurteilung des äußeren Verhaltens nicht möglich gewesen wäre“, folgert Prof. Laureys. „Diese Patienten/-innen sind offensichtlich bewusst genug, um den Auftrag zu verstehen, sonst könnte der Motor-Cortex nicht anspringen. Aufgrund der Art ihrer Gehirnschädigungen gelangt der dort gegebene Impuls aber nicht bis zu den Muskeln, die er bewegen möchte.“
Aktivierung des Hörzentrums
Die Forscher aus Lüttich stellten auf dem ENS-Kongress auch erste Studienergebnisse zur Entwicklung eines weiteren Instruments zur Entdeckung verbliebener Bewusstseinpotenziale vor. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass es innerhalb der Hörrinde (Hörzentrum) sowohl im Wachzustand als auch im Zustand der Bewusstlosigkeit zu spontanen Fluktuationen der Nervenaktivität kommt. Etwa alle 20 Sekunden schaltet das Hörzentrum von der Konzentration auf Außenreize zu jener auf innere Vorgänge um, und umgekehrt. „Unsere Untersuchungen an gesunden Probanden/-innen zeigten, dass die Gehirnreaktion auf akustische Reize im Schaltzustand „Außenwelt“ wesentlich stärker ausfielen als im Schaltzustand „Innenwelt“, dass dieser Unterschied mit steigender Sedierung bzw. schwindendem Bewusstsein jedoch abnahm. Aus der An- oder Abwesenheit dieses Unterschieds in der Verarbeitung auditiver Impulse könnten wir also auch auf das Ausmaß noch vorhandenen Bewusstseins schließen“, so Prof. Moonen. „Das muss nun an einer entsprechend großen Zahl von Patienten/-innen mit Bewusstseinsstörungen verifiziert werden.“
Quellen: ENS Abstracts O 236: Does self-referential stimuli perception decrease with diminished level of consciousness?; ENS Abstracts O 239: Interaction between spontaneous fluctuation and auditory evoked activity during wakefulness and loss of consciousness; ENS Abstracts O 253: Assessment of localisation to auditory stimulation in post-comatose states: use the patient’s own name; ENS Abstracts P 397: Detecting movement volition in disorders of consciousness; http://jnnp.bmj.com/content/73/4/355.full.
ENS Pressestelle:
Dr. Birgit Kofler
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