EHFG 2011: Migration von Gesundheitspersonal entschärft Versorgungsengpässe – aber auf Kosten ärmerer Länder

In vielen europäischen Ländern besteht ein spürbarer Mangel an medizinischem Fachpersonal und Pflegekräften, im kommenden Jahrzehnt droht ein regelrechter Versorgungsengpass.

Eine Strategie von immer mehr Ländern ist die Anwerbung von Arbeitskräften für das Gesundheitswesen aus dem EU-Ausland und aus Drittstaaten – in denen ihrerseits massive Unterversorgung droht. Es müssten solidarische Lösungen innerhalb Europas, aber auch auf globaler Ebene gefunden werden, forderten Experten/-innen heute beim European Health Forum Gastein, damit nicht einzelne Staaten ihr Versorgungsproblem auf Kosten anderer lösen.
Bad Hofgastein, 6. Oktober 2011 – „Wir haben in vielen Ländern Europas bereits jetzt einen deutlichen Mangel an Arbeitskräften im Gesundheitssektor – von Ärzten/-innen über qualifiziertes Pflegepersonal bis hin zu angelernten Pflegekräften, die vor allem in der Heimpflege tätig sind,“ sagte heute Dr. Armin Fidler, Strategischer Berater für Gesundheitspolitik bei der Weltbank, auf dem European Health Forum Gastein.
Die Prognosen gehen von einer weiteren Verschärfung der Situation aus: Nach Schätzungen der EU-Kommission werden europaweit 2020 ein bis zwei Millionen Fachkräfte im Gesundheitssektor fehlen, falls nicht gegengesteuert wird. Allein beim Pflegepersonal gehen die Prognosen von 600.000 fehlenden Fachkräften in zehn Jahren aus, der Ärztemangel zu diesem Zeitpunkt wird mit 230.000 beziffert.
Der wesentliche Grund dafür ist ein gleich doppeltes Alterungsproblem. „Die Europäer/-innen leben immer länger, und mit der steigenden Lebenserwartung steigt auch die Zahl behandlungs- und pflegebedürftiger Menschen“, so Dr. Fidler. „Was aber häufig völlig unterschätzt wird, ist die Alterspyramide des Gesundheitspersonals selbst. Denn gleichzeitig nähert sich ein nicht unerheblicher Anteil von Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten, dem Pensionsalter – und für sie gibt es nicht ausreichend Nachwuchs.“ In Dänemark, Frankreich, Island, Norwegen und Schweden, rechnete die WHO kürzlich vor, sind heute aktive Pflegepersonen im Durchschnitt bereits zwischen 41 und 45 Jahre alt.
Dazu komme, so Dr. Fidler, auch die Ungleichverteilung von Medizin- und Pflegekapazitäten innerhalb der einzelnen Länder. Während in Ballungszentren die Strukturen in der Regel besser entwickelt sind, werde „auf dem Land die Versorgung als erstes zusammenbrechen, wenn der derzeitige Trend anhält.“
Die einzelnen Staaten entwickeln unterschiedliche Strategien, um den drohenden Versorgungsengpässen zu begegnen – unter anderem gezielte Programme, um die Arbeitsbedingungen attraktiver zu machen und Gesundheitspersonal länger im Job zu halten. Aber auch die zunehmende Mobilität von Arbeitskräften wird genutzt. “Dass Angehörige der Gesundheitsberufe in ein anderes Land auswandern, kann viele Motive haben – persönliche, soziale und ökonomische,  wie wir sie vor allem nach der letzten EU-Erweiterungsrunde gesehen haben”, so Dr. Fidler. „Aber ein an Bedeutung gewinnender Faktor ist die gezielte Rekrutierung von Gesundheitspersonal in anderen Ländern, um Versorgungsengpässe zu überwinden.“
Immer mehr Menschen, die im Gesundheitssystem tätig sind, gehen in ein anderes Land – von hochqualifizierten Fachärzten/-innen für den Spitalsbetrieb bis zu angelernten Pflegekräften, die in Haushalten pflegebedürftige Menschen betreuen. Allerdings sind die mobilen Gesundheitsarbeitskräfte in Europa sehr unterschiedlich verteilt. Laut European Observatory on Health Systems and Policies sind 43 Prozent der in Großbritannien tätigen Ärzte/-innen zugewandert, in Belgien sind es 25 Prozent. Am anderen Ende des Spektrums liegen Ungarn mit nur fünf und Polen mit nur drei Prozent Migranten/-innen-Anteil unten den Medizinern/-innen. Auch beim Krankenpflegepersonal ist das Spektrum breit – von 47 Prozent in Irland bis nur zwei Prozent in Ungarn.
„Die Dynamik von internationaler Mobilität,  Migration und Rekrutierung von Gesundheitsberufen ist enorm komplex“, betonte Dr. Fidler. „Grundsätzlich ist berufliche Mobilität eine sehr positive und begrüßenswerte Entwicklung – auch in den Gesundheitsberufen: Das Angebot folgt der Nachfrage, Fachkräfte gehen dorthin, wo sie die besten Möglichkeiten haben, und die Arbeitserfahrung im Ausland trägt zu einer besseren Qualifizierung bei. Die Kehrseite der Medaille: Die Mobilität von Gesundheitspersonal verschärft Ungleichheiten und Versorgungsmängel in den Herkunftsländern weiter.“
Das kann schon bei Migrationsbewegungen innerhalb der EU zu massiven Problemen in einzelnen Ländern führen, wobei die Auswirkungen die Mitgliedsstaaten in unterschiedlicher Weise treffen: Für die ärmeren EU-Mitgliedsstaaten wird es schwieriger, Angehörige der Gesundheitsberufe im eigenen Land zu halten, was in den „Auswanderungsländern“ den Fachkräfte-Mangel zusätzlich verschärfen kann. In Rumänien beispielsweise wandern mehr als zehn Prozent der Mediziner/-innen ins westeuropäische Ausland ab. Bessere Verdienstmöglichkeiten seien ein wesentlicher Grund für viele Ärzte/-innen, ihr berufliches Glück im Ausland zu suchen, vermuten die Experten/-innen. „Ein estnischer Arzt verdient beispielsweise in Finnland sechsmal so viel wie in seiner Heimat. Eine rumänische Allgemeinmedizinerin bekommt in Frankreich das Zehnfache dessen, was sie in Rumänien einnehmen kann. Da sind die Wanderbewegungen schon nachvollziehbar“, so Dr. Fidler. „Geld ist jedoch nur ein Faktor für die Mobilität. Eine wichtige Rolle spielen auch die Arbeitsbedingungen, das Arbeitsumfeld und die Entfaltungsmöglichkeiten.“
Noch problematischer als innerhalb der EU ist der medizinische Brain Drain aus Drittstaaten, in denen die ohnehin schon oft schlechte gesundheitliche Versorgungslage gravierend verschärft werden kann. Nur drei Prozent des gesamten medizinischen Personals weltweit arbeiten in Afrika südlich der Sahara. Der eklatante Mangel an Ärzten/-innen und Pflegepersonen in dieser Region wird durch die erhöhte Nachfrage und den Wettbewerb um solche Fachkräfte in den Industrieländern noch verschärft. „Wenn in der EU keine geeigneten Maßnahmen entwickelt werden, um dafür zu sorgen, dass intern genügend Fachkräfte im Gesundheitswesen ausgebildet und gehalten werden können, werden sich die negativen Auswirkungen der Migration auf die Gesundheitssysteme der Entwicklungsländer in Zukunft wohl kaum verringern,“ so Dr. Fidler. „Es ist offensichtlich, dass hier einerseits gesamteuropäische Lösungen gefunden werden müssen. Aber es ist auch nicht damit getan, dass Europa sein Versorgungsproblem auf Kosten von ärmeren Ländern und deren Entwicklung löst. Hier ist auch globale Solidarität gefragt.“
Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitischen Kongress der Europäischen Union, mehr als 600 Entscheidungsträger/-innen aus 45 Ländern diskutieren hier zentrale Zukunftsthemen der europäischen Gesundheitssysteme.
EHFG Press Conference “Health without borders?”. 6. Oktober 2011
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