EHFG 2011: Gesundheitsreformen in Osteuropa: Lehren aus der Achterbahnfahrt

Ungarns Pilotprogramm zur Gesundheitskoordination – 1999 eingeführt und 2008 nach einen politischen Debakel wieder abgeschafft – ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie komplex sich Gesundheitsreformen gestalten können.

Das berichteten Experten/-innen beim European Health Forum Gastein, wo darüber debattiert wurde, was Westeuropa aus den Gesundheitsreformen im Osten lernen kann. Ungarns Erfahrungen zeigten eine unbequeme Wahrheit auf: Werden chronische Erkrankungen frühzeitig erkannt und therapiert, spart das kurzfristig nicht zwingend Geld. Aber die Gesundheit der Bevölkerung verbessert sich dadurch  – und das sollte der eigentliche Antrieb der Reform sein, betonten Experten/-innen.
Bad Hofgastein, 5. Oktober, 2011 – Der politische Wandel, der mit dem Fall des Eisernen Vorhangs einherging, wirkte sich auf die Gesundheitssysteme in den Staaten Mittel- und Osteuropas massiv aus. Angesichts der schweren Finanzkrise und des weltweiten Konjunkturabschwungs könnten manche Länder aus den Erfahrungen und Erkenntnissen ehemaliger Übergangsstaaten profitieren, wenn es darum geht, Gesundheitssysteme einem neuen politischen und ökonomischen Kontext anzupassen, sagten heute Experten/-innen beim European Health Forum Gastein (EHFG).
Dr. Tamás Evetovits vom WHO Büro in Barcelona beschrieb in einem Workshop der Russischen Akademie der Wissenschaften und des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik im Detail, was aus dem ehrgeizigen Versuch wurde, Ungarns Gesundheitssystem zu reformieren. In Ungarn wurde auch nach der wirtschaftlichen Transition das Einzelzahler-Modell im Gesundheitssystem beibehalten. Obwohl nach 1989 teilweise Apotheken und die ambulante Behandlung im Facharztbereich privatisiert wurden, blieb der überwiegende Teil der sekundären und tertiären Gesundheitsversorgung in öffentlicher, zumeist lokaler Hand. „Dem System fehlte jedoch jener integrative Ansatz, der für die Behandlung von chronischen Patienten/-innen mit vielfältigen Gesundheitsproblemen vonnöten wäre“, erklärte Dr. Evetovits.
Besonders problematisch waren Fehlversorgung, Ungleichheiten im Zugang zu bestimmten teuren medizinischen Interventionen, Doppelgleisigkeiten bei Gesundheitsdienstleistungen sowie Behandlungen, die auf unnötig hohem Niveau durchgeführt wurden, während  die Medikalisierung sozialer Probleme gängige Praxis war – und nach wie vor ist. „Patienten/-innen, die im System herumirren, ehe sie richtig diagnostiziert und behandelt werden, sind keine Seltenheit, und auch die Schnittstelle zwischen Dienstleistungen für akute, chronische und soziale Fälle funktioniert nicht richtig.“
Die Reformen scheiterten, als die damalige, bis 2010 im Amt befindliche Regierung den Plan verfolgte, das System der sozialen Krankenversicherung zu privatisieren. Sie betraute konkurrierende private Krankenversicherungsträger mit der Koordinierungsfunktion. Anders als im Pilotprogramm konzipiert, waren nun die Anbieter selbst für die Gesundheitskoordination zuständig. Obwohl das Pilotprogramm nachweislich Erfolge vorzuweisen hatten, fiel es neuen Reformkonzepten zum Opfer. Diese wurden allerdings 2007 massiv abgelehnt – nach einer Volksabstimmung über private Zuzahlungen zu stationären und ambulanten Behandlungen, einer Reform, die der geplanten Privatisierung voranging. Ein Opfer der Proteste war der Gesundheitsminister, das andere das Pilotprogramm, dessen Kern darin bestand,  finanzielle Anreize für Gesundheitsanbieter zu schaffen, um ihre Aktivitäten in definierten Regionen zu koordinieren und zu diesem Zweck auf die gesammelten nationalen Gesundheitsdaten zurückzugreifen.
Das Pilotmodell wies Ähnlichkeiten zum US-amerikanischen Managed-Care-System sowie zum britischen Fundholding auf. Innovativ daran war etwa die Idee einer Gesundheitskoordinierungsstelle, die entweder bei einer Gruppe praktischer und Fachärzte/-innen oder auch in einem Krankenhaus angesiedelt sein konnte, deren Finanzen jedoch zentral kontrolliert wurden. Zudem war die Finanzverwaltungsfunktion virtuell: Wurde weniger ausgegeben, als pro Kopf budgetiert, wurde der ersparte Differenzbetrag an die Gesundheitskoordinierungsstelle überwiesen, die das Geld verwenden konnte, um beispielsweise Ärztinnen und Ärzte zu entlohnen oder die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Die Patienten/-innen konnten in einem bestimmten, für alle geltenden Rahmen ihren Anbieter/-innen weiterhin frei wählen, aber die Zahlungen an diese wurden vom virtuellen Budget der Gesundheitskoordinierungsstelle abgezogen. Das bewirkte eine Beschränkung des Anreizes, Geld durch Unterbehandlung zu sparen. Die Datenbank der National Health Insurance Fund Administration (NHIFA), die bis zu diesem Zeitpunkt nicht richtig genutzt worden war, bot die einzigartige Gelegenheit, eine sachgerechte Analyse der relativen Effektivität des Pilotmodells durchzuführen, das einstellt wurde, ohne es „einer ordnungsgemäßen wissenschaftlichen Evaluierung zu unterziehen“, sagte Dr. Evetovits.
Einer der wichtigsten und problematischsten Sachverhalte, der durch das Pilotprogramm entdeckt wurde, war, dass die Früherkennung und adäquate Behandlung von chronischen Erkrankungen kurzfristig keine Ersparnisse brachten, weil etwa Patienten/-innen mit kardiovaskulären Erkrankungen in der Folge kostspielige Interventionen wie PCI (perkutane Koronarintervention) in Anspruch nahmen. Gleichzeitig bekamen Patienten/-innen, die nicht fachgerecht behandelt worden waren, keinen Zugang zu diesen kostspieligen Eingriffen, entweder weil sie starben oder den kritischen Zeitpunkt der Intervention schon überschritten hatten.
Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitischen Kongress der Europäischen Union, mehr als 600 Entscheidungsträger/-innen aus 45 Ländern diskutieren hier zentrale Zukunftsthemen der europäischen Gesundheitssysteme.
EHFG Workshop 3 “Lessons from the East”. 5. Oktober 2011
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