Neuropsychiatrische Krankheiten: 81 Millionen Europäer betroffen, fast 800 Milliarden Euro Kosten

Themenschwerpunkt Parkinson: Neue Einsichten in Krankheitsentstehung, neue Ansätze für Prophylaxe und Therapie.

Neuro-psychiatrische Erkrankungen sind in Europa weiter auf dem Vormarsch: Neueste Hochrechnungen sprechen von 81 Millionen Betroffenen und jährlichen Kosten von fast 800 Milliarden Euro, betonten Experten/-innen heute auf dem Europäischen Neurologenkongress in Prag. Patienten/-innen mit Morbus Parkinson, einem der Kongressschwerpunkte, dürfen vorsichtige Hoffnung schöpfen: Neue Einsichten in Entstehung und Mechanismen der Erkrankung lassen bei frühzeitigem Behandlungsbeginn zumindest die Verzögerung des Krankheitsverlaufs möglich erscheinen. Mit innovativen Therapien lassen sich die typischen Bewegungsstörungen und weitere, bisher oft vernachlässigte Begleitsymptome besser beherrschen.
Prag, 11. Juni 2012 – Die geradezu epidemische Ausbreitung neuropsychiatrischer Erkrankungen in Europa nimmt weiter zu. „Nach jüngsten Hochrechnungen des European Brain Council stehen wir in den 27 EU-Staaten plus Schweiz, Norwegen und Island zur Zeit bei 81 Millionen Betroffenen, also fast 16 Prozent der damit erfassten 514 Millionen Europäer/-innen“, betonte Prof. Dr. Heinz Reichmann (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden), Präsident der Europäischen Neurologengesellschaft (ENS). Rund 3.000 Experten/-innen aus aller Welt diskutieren beim ENS Kongress in Prag neueste Entwicklungen aus ihrem Fachgebiet. „Die ökonomische Last, die wir damit schultern, beträgt nicht weniger als 798 Milliarden Euro – gigantische Kosten, die wir nur durch konsequente Vorsorge und verstärkte Forschungsanstrengungen in den Griff bekommen können.“ Insgesamt sind 60 Prozent dieser Summe sogenannte direkte Kosten (durch Krankenbehandlung, Pflege etc.) und 40 Prozent Kosten durch Produktivitätsverlust, wobei die Anteile dieser Größen je nach Diagnose stark differieren.
Traurige Hitliste: Angst, Kopfschmerz, Schlafstörungen
61,3 Millionen Europäer/-innen leiden an Angststörungen, fast 50 Millionen an Migräne, 45 Millionen an Schlafstörungen, 33,3 Millionen an Gemütserkrankungen („mood disorders“), 20 Millionen an somatoformen Störungen, 15,5 Millionen an Abhängigkeiten, 6,3 Millionen an Demenz. Dazu kommen noch schwere Erkrankungen wie Epilepsie (2,6 Millionen), 1,3 Millionen Schlaganfälle pro Jahr (insgesamt betroffen: an die 7 Millionen), Morbus Parkinson (1,2 Millionen), Multiple Sklerose (rund 540.000), neuromuskuläre Erkrankungen (260.000) und 1,2 Millionen traumatische Gehirnverletzungen.
Schwerpunktthema Parkinson
Neueste Erkenntnisse zum Morbus Parkinson, einer der häufigsten degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, sind ein Themenschwerpunkt des Europäischen Neurologenkongresses in Prag. „Wir können Parkinson-Patienten/-innen schon heute wesentlich besser behandeln als noch vor ein paar Jahren, und die Vertiefung unseres Krankheitsverständnisses lässt die Entwicklung noch wirksamerer Therapien erwarten“, so Prof. Reichmann.
Parkinson beginnt in der Nase
Eine der auf dem ENS 2012-Kongress präsentierten Neuigkeiten: Morbus Parkinson nimmt seinen Ausgang nicht in den motorischen Zentren des Gehirns, sondern in Nervenzellen des Geruchsinns und pflanzt sich Zelle für Zelle weiter fort: Zunächst in Richtung Magen und von dort über den Nervus Vagus zum Gehirn. „Dieses Wissen gibt uns vielleicht einmal die Möglichkeit, die Krankheit noch viel früher zu entdecken und ihre Ausbreitung zu unterbinden“, so Prof. Reichmann. Was die Gründe des Krankheitsausbruchs betrifft, diskutieren wir neu entdeckte genetische Risikofaktoren, schädliche Umwelteinflüsse wie Gifte, zum Beispiel Kohlenmonoxid oder Mangan uvm., oder Viren oder Bakterien. Am wahrscheinlichsten entsteht Morbus Parkinson durch das Zusammentreffen einer genetischen Vorbelastung, die eine erhöhte Empfindlichkeit auf Umwelteinflüsse bedingen könnte. Mit jedem derartigen Erkenntnisschritt kommen wir der Vision neuer genetischer Therapien sowie wirksamer Präventionsstrategien näher.“
Erste Hoffnungen für Hemmung des Krankheitsverlaufs
Ein Schritt in Richtung wirksamer Prävention könnte schon gelungen sein. „Während wir bisher der Meinung waren, dass die Standard-Therapie mit sogenannten Dopamin-Agonisten und MAO-Hemmern erst Sinn macht, wenn die Symptome zu Behinderungen führen, gibt es nun erstmals Studienergebnisse, die anderes zeigen: Die sofortige Behandlung mit den MAO-B-Hemmern Rasagilin, eventuell auch Selegilin, scheint einer Verschlechterung der Lebensqualität vorzubeugen“, so Prof. Reichmann auf dem ENS-Kongress.
Weniger Nebenwirkungen bei gleicher Wirkung: Neue Leitlinien
Nicht nur diese Einsicht könnte für Parkinson-Patienten/-innen schon bald neue, verbesserte Behandlungsstrategien nach sich ziehen. Bisher wurden die durch Morbus Parkinson hervorgerufenen unfreiwilligen Bewegungen (Dyskinesien) bevorzugt mit Dopamin-Agonisten anstatt mit Levo-Dopa behandelt, was jedoch zu unerwünschten Nebenwirkungen führt. „Sechs bis zehn Prozent der mit Dopamin-Agonisten behandelten Patienten/-innen entwickeln Impulskontrollstörungen wie Spiel-, Kauf-, Sex- oder Esssucht“, so Prof. Reichmann. „Neue Studien zeigen, dass diese durch die gleichzeitige Gabe von Levo-Dopa vermieden werden können. Wir diskutieren daher eine Optimierung der Leitlinien, um einen gleich hohen Therapieeffekt mit weniger Nebenwirkungen zu erzielen.“
Erfolge mit neuen Medikamentenpumpen, Grenzen der Tiefen Hirnstimulation
Verbesserte, innovative Therapien dürften aber auch bald Patienten/-innen mit bereits fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung und entsprechend intensiven Dyskinesien zur Verfügung stehen. Erste Langzeitstudien belegen die Erfolge der Apomorphin-Pumpe, die über eine kleine, unter die Haut gesetzte Nadel kontinuierlich den Dopamin-Agonisten Apomorphin in die Blutbahn abgibt. Positive Ergebnisse gibt es auch für die L-Dopa-Pumpe, die diese Substanz über einen kleinen, implantierten Schlauch direkt in den Dünndarm einführt.
Neue Langzeitstudien der Tiefen Hirnstimulation („Gehirnschrittmacher“) zeigen die Wirksamkeit und Grenzen dieser Therapie. „Entgegen unseren Hoffnungen können wir das Fortschreiten der Erkrankung damit nicht vollständig unterbinden“, so Prof. Reichmann. „Außerdem sehen wir, dass die Operation nur von sehr erfahrenen Spezialisten/-innen durchgeführt werden sollte: Wenn die Elektrode auch nur um einen Millimeter falsch gesetzt wird, kann es zu Störungen des Sehvermögens und emotionalen Störungen kommen, ohne dass die Bewegungsstörungen dadurch gebessert würden.“
Erstmals Zahlen zu bisher vernachlässigten Begleitsymptome
Immer mehr beschäftigt sich die Parkinson-Forschung auch mit verbreiteten Begleitsymptomen der Erkrankung. Prof. Reichmann: „Wir können dazu nun erstmals konkrete Zahlen präsentieren.“ Die wichtigsten dieser Symptome und ihre Häufigkeit unter Parkinson-Patienten/-innen: Verstopfung (45 Prozent), Riechverlust (90 Prozent), Doppel-Sehen (10 Prozent), fettige Haut, exzessives Schwitzen, Impotenz (30 Prozent), bzw. bei Frauen Gefühlsarmut, Harninkontinenz (50 Prozent), diffuse Schmerzen (30 Prozent), Depression (30 Prozent), Anhedonie (Freudlosigkeit) (30 Prozent), Demenz (nahezu bei allen Patienten/-innen in den letzten Jahren der Erkrankung).
„Neueste Untersuchungen zeigen, dass diese Symptome, vor allem Depression und Demenz, die Patienten/-innen mehr Lebensqualität kosten als die Bewegungsstörungen“, so Prof. Reichmann. „Wir müssen daher die konsequente Erhebung und Behandlung auch dieser Parkinson-bedingten Phänomene fordern. Noch nicht bei allen ist dies wirksam möglich, aber wir haben gute Medikamente gegen Depression, Verstopfung und übermäßige Schweißentwicklung. Der Ausbruch von Demenz lässt sich verzögern und gegen Riechverlust ist ein neuer Wirkstoff in Erprobung, der diesen zumindest etwas bessern können dürfte.“
Quelle: Studie des European Brain Council: www.europeanbraincouncil.org/pdfs/Publications_/Cost%20of%20Disorders%20of%20the%20Brain%20in%20Europe%20-%20EurNeuro2011.pdf
ENS Pressestelle:
Dr. Birgit Kofler
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Tel.: +43-1-3194378-13
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