Europäischer Schmerz-Kongress: Cannabinoide unverzichtbare Option in der Schmerzbehandlung

EFIC 2011: VII. Europäischer Schmerz-Kongress, 21.-24. September 2011, Hamburg Cannabinoide unverzichtbare Option in der Schmerzbehandlung – Experten/-innen fordern EU-weite Verfügbarkeit und Kassen-Erstattung standardisierter Cannabinoid-Arzneimittel

Der Nutzen von Cannabinoiden in der Schmerzbehandlung ist mittlerweile belegt, betonen Experten/-innen auf dem Europäischen Schmerz-Kongress EFIC 2011 und treten für eine europaweite Verfügbarkeit standardisierter Arzneimittel und deren Kassen-Erstattung ein. Cannabinoide helfen weitgehend nebenwirkungsarm gegen zahlreiche chronische Schmerzzustände, ihre komplexe Wirkungsweise erfordert allerdings besondere Expertise.

Hamburg, 22. September 2011 – „Der therapeutische Einsatz von Cannabinoiden in der Behandlung bestimmter chronischer Schmerzen ist heute, durch Daten gut belegt, in vielen Fällen eine zweckmäßige und unverzichtbare Option. Mit einer Legalisierung von Marijuana oder des Cannabis-Anbaus hat der Einsatz solcher standardisierter und rezeptierter Arzneimittel absolut nichts zu tun“, betonte der Präsident des Dachverbandes europäischer Schmerzgesellschaften EFIC, o.Univ.-Prof. DDr. Hans Georg Kress (Wien, A), heute im Rahmen des Europäischen Schmerz-Kongresses EFIC 2011 in Hamburg. „Als zusätzliche Therapieoption vor allem bei chronischen Schmerzzuständen wie Tumorschmerz, HIV-bedingte Nervenschmerzen oder Spastik bei Multipler Sklerose leisten Cannabinoide hervorragende und weitgehend nebenwirkungsarme Dienste, auch wenn ihre hochkomplexe Wirkungsweise in bestimmten Situationen große Achtsamkeit und Expertise erfordert.“

Cannabinoide modulieren die Schmerzwahrnehmung

Cannabinoide sind eine Klasse von Substanzen, die der Körper und das menschliche Gehirn selbst herstellen. Sie modulieren Teile des Lern- bzw. Belohnungssystems sowie des Immunsystems. Docken sie an Cannabinoid-Rezeptoren (CB1und CB2) an, wirken sie unter anderem schmerzlindernd. Intensive Schmerzzustände können gebessert werden, wenn dem Körper zusätzliche Cannabinoide zugeführt werden. In der therapeutischen Praxis wird dafür der Hauptwirkstoff der Hanfpflanze, Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) eingesetzt, der entweder, wie das in etlichen europäischen Staaten rezeptierbare Präparat Dronabinol aus der natürlichen Hanfpflanze gewonnen oder, wie bei dem in den USA zugelassenen Präparat Marinol, synthetisch hergestellt werden kann.

Bewiesene Wirkung bei schwierig zu behandelnden speziellen chronischen Schmerzen

„Zunächst wurden Cannabinoide vor allem bei Tumor- und HIV-Patienten/-innen eingesetzt, um Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust zu behandeln”, so Prof. Kress. „Inzwischen belegen immer mehr Daten ein wesentlich breiteres Wirkungsspektrum: THC wirkt auch bei bestimmten Neuropathien wie bei HIV-Infektion, Multipler Sklerose, dem Querschnittssysndrom oder anderen spastischen Schmerzen, und es gibt vielversprechende Hinweise auf ein Potenzial dieser Arzneimittel in der Behandlung verschiedener chronisch-entzündlicher Erkrankungen, wie Rheumatoider Arthritis oder chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen.“ Besonders synergetisch ist die Kombination von THC mit einer klassischen Opioid-Therapie, so Prof. Kress: „Anders als Opioide führen Cannabinoide auch bei Überdosierung zu keiner potenziell lebensgefährlichen Atemdepression und auch zu keiner Unterdrückung der wichtigen Abwehrfunktion gegen infektiöse Keime.”

Dieses für zahllose Patienten erfreuliche Wirkprofil von THC wird dadurch nicht geschmälert, dass eine Reihe von Studien keine Wirksamkeit gegen Akutschmerz belegen konnten, und dass in Einzelfällen sogar Hyperalgesien (Überempfindlichkeit gegenüber schmerzhaften Reizen) ausgelöst werden können. „Tatsächlich ist die Wirkung von THC im Rückenmark äußerst komplex”, erläuterte Prof. Kress. Die Aktivierung des CB1-Rezeptors kann nicht nur die Weiterleitung schmerzhafter Erregungsreize blockieren, sondern unter bestimmten Umständen auch die entgegengesetzte Wirkung entfalten, wie auf dem Kongress diskutierte Studien und Analysen zeigen. Die Erklärung dafür ist die hemmende Wirkung der Cannabinoide auf die natürliche „absteigende Schmerzhemmung“ im Rückenmark, die bei akuten Schmerzen somit eher schmerzverstärkend wirken kann. Bei chronischen Schmerzen fehlt oder versagt diese natürliche Schmerzhemmung oftmals, sodass dann Cannabinoide nur noch überwiegend analgetische, schmerzdämpfende Wirkungen zeigen. Prof. Kress: „Dies würde das gute Ansprechen zum Beispiel chronischer neuropathischer Schmerzen auf Cannabinoid-Arzneimittel erklären.“

In den vergangenen Jahren gab es, so der Experte, zunehmend qualitativ hochstehende, randomisierte, kontrollierte, klinisch-wissenschaftliche Untersuchungen zum schmerztherapeutischen Nutzen von Cannabinoiden. Auch auf dem aktuellen EFIC Kongress in Hamburg werden neue wissenschaftlichen Daten zu diesem Thema präsentiert: So zeigt etwa eine neue kanadische Studie, dass sich das synthetische Cannabinoid Nabilone bei MS-Patienten/-innen mit neuropathischen Schmerzen als wirksame und gut verträgliche Additivtherapie zu Gabapentin erwiesen hat. Und eine neue spanische Studie zeigt im Tiermodell, dass sich bei Muskelschmerzen lokal angewendete Cannabinoide als interessante künftige Therapieoption erweisen könnten.

Experten/-innen fordern Zulassung und Kassen-Erstattung von Cannabinoid-Arzneimitteln – Kritik an Forderung nach Freigabe von Cannabis für die Selbstversorgung

Für die Schmerzbehandlung sind Cannabinoid-Präparate wie Dronabinol (THC) derzeit unter anderem in Deutschland, Österreich, Kanada, Großbritannien, Tschechien und Dänemark verschreibbar, als Sublingual-Spray bestehen Zulassungen in Kanada, Großbritannien, Spanien, Deutschland und Dänemark. „Im Interesse zahlreicher Schmerzpatienten/-innen ist die EU-weite Zulassung von cannabinoidhaltigen Fertigarzneimitteln für die Schmerz- und Palliativtherapie, sowie ihre Refundierung durch die nationalen Krankenkassen ein wichtiges Anliegen der Europäischen Schmerzgesellschaften“, so EFIC-Präsident Prof. Kress. „Patienten/-innen, für die Cannabinoide eine therapeutisch sinnvolle Option sind, dürfen keinesfalls unterversorgt bzw. bei der Suche nach einer medizinisch sinnvollen Cannabinoid-Therapie in die Illegalität getrieben werden.“

Keine Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit sieht Prof. Kress in der gelegentlich geforderten Freigabe der „Selbstversorgung“ mit Cannabis, auch zu medizinischen Zwecken, da dieses fast immer aus illegalen Quellen stamme, und so schwer kranke Menschen zum Kontakt mit dem Schwarzmarkt gezwungen würden. Zudem würden die Betroffenen durch eine zum Teil extrem mangelhafte Qualität dieser nicht standardisierten Cannabiszubereitungen zusätzlich gefährdet. „Probleme des Konsums der Pflanze zu therapeutischen Zwecken, wie mikrobielle und chemische Verunreinigungen, der Mangel an Qualitätskontrolle und Dosierbarkeit können auch durch eine ‚medizinische Legalisierung’ nicht gelöst werden“, betonte Prof. Kress. „Ferner gibt es keinen Beweis dafür, dass die Wirkung von Cannabis oder Marihuana besser wäre als die der hervorragenden Auswahl bereits verfügbarer therapeutischer Cannabinoid-Reinsubstanzen.“

Über EFIC und den EFIC-Kongress „Pain in Europe“

Der 1993 gegründete Europäische Dachverband nationaler Schmerzgesellschaften (European Federation of IASP® Chapters – EFIC®) ist eine multidisziplinäre Fachgesellschaft auf dem Gebiet der Schmerzforschung und -medizin, der derzeit 35 nationale Mitgliedsgesellschaften („Chapters“) derInternational Association for the Study of Pain (IASP®) angehören. Diese nationalen Mitgliedsgesellschaften in 35 Ländern Europas repräsentieren rund 20.000 Ärzte/-innen, Grundlagenforscher/-innen, Pflegepersonen, Physiotherapeuten/-innen, Psychologen/-innen und andere Gesundheitsexperten, die in der Schmerztherapie und Schmerzforschung tätig sind. Die Ziele von EFIC sind Forschung, Aus- und Fortbildung und klinische Behandlungspraxis zum Thema Schmerz zu fördern, sowie als maßgebliche, unabhängige wissenschaftlich fundierte Informationsquelle zu gesundheitspolitischen Themen zur Verfügung zu stehen, die Schmerz und sein Management betreffen. „Pain in Europe VII“ in Hamburg (21. bis 24. September 2011) ist der 7. EFIC-Kongress seit 1995. EFIC-Kongresse sind zu einem beliebten europäischen Forum geworden, 2011 werden bereits mehr als 4.000 Teilnehmer/-innen verzeichnet. Die Kongressteilnehmer/-innen stammen großteils aus Europa, die Delegierten kommen jedoch insgesamt aus 75 Ländern.

Quelle: EFIC Abstracts 1 CANNABINOIDS IN PAIN MANAGEMENT: A DOUBLE-EDGED SWORD?; F203 MUSCLE PAIN AND PERIPHERAL CANNABINOID ANTINOCICEPTION; S265 RANDOMIZED, DOUBLE-BLINDED, PLACEBO-CONTROLLED STUDY EVALUATING THE EFFICACY AND SAFETY OF NABILONE ADJUNCTIVE TO GABAPENTIN IN MANAGING MULTIPLE SCLEROSIS-INDUCED NEUROPATHIC PAIN; S627 EVALUATION OF PAIN AND HEALTH-RELATED QUALITY OF LIFE (HRQOL) OUTCOMES IN CHRONIC PAIN PATIENTS TREATED WITH CANNABIS

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