Europäischer Schmerz-Kongress: Unterschätzte Volkskrankheit Rückenschmerz

EFIC 2011: VII. Europäischer Schmerz-Kongress, 21.-24. September 2011, Hamburg Unterschätzte Volkskrankheit Rückenschmerz: Inadäquates Klassifikationssystem, Defizite in Forschung und Rehabilitation

Die Prognose für unspezifischen Rückenschmerz, der in den Industriestaaten zur Epidemie geworden ist, ist weit schlechter als allgemein angenommen, warnten Experten/-innen auf dem Europäischen Schmerz-Kongresses EFIC 2011in Hamburg. Rückenschmerz, dem keine spezifische Ursache zugeordnet werden kann, erfordert verstärkte Forschungs- und Rehabilitationsanstrengungen, um Behandlungsoptionen zu verbessern.

Hamburg, 22. September 2011 – „Dass 80 Prozent der Patienten/-innen, die wegen unspezifischer Rückenschmerzen in Krankenstand gehen, ihre Arbeit binnen weniger Wochen wieder aufnehmen, führte zu der weit verbreiteten Fehlauffassung, dass sie in dieser Frist von ihren Schmerzen genesen. Für die große Mehrheit von 65 Prozent sieht die traurige Wahrheit jedoch so aus, dass der Schmerz chronisch wird”, so Prof. Dr. Maarten van Kleef (Maastricht, NL) vor dem Europäischen Schmerz-Kongresses EFIC 2011, der vom 21. bis 24. September in Hamburg stattfindet. „Die Folgen sind persönliches Leid und enorme sozioökonomische Auswirkungen, denen bei weitem kein ausreichendes Augenmerk gewidmet wird. Jüngste Studien und systematische Datenauswertungen zeigen, dass die Prognose für Patienten/-innen mit Rückenschmerzen alles andere als gut ist. Diese ungünstigen Ergebnisse sind selbst zu vielen Primärversorgern/-innen und Entscheidungsträgern/-innen des Gesundheitswesens noch nicht durchgedrungen. Wir müssen daher unsere Anstrengungen verstärken, diese Information zu verbreiten und die Prävention ebenso wie wirkungsvollere Therapien vorantreiben. Nicht zuletzt müssen wir ein neues Klassifikationssystem für unspezifischen Rückenschmerz erarbeiten, das diesen in Sub-Gruppen unterteilt, um für jede dieser Gruppen maßgeschneiderte Therapien entwickeln zu können.“

Unspezifischer chronischer Rückenschmerz: Unterschätzte Epidemie

Anders als spezifischer Rückenschmerz – Schmerz, der einer anerkannten Diagnose wie einer Infektion, Osteoporose, Krebs oder einer Wirbelfraktur zugeordnet werden kann – geht unspezifischer Rückenschmerz in der Regel auf Abnützungsprozessen in einem oder mehreren Abschnitten der Wirbelsäule zurück.

Während der vergangenen Jahrzehnte hat sich Rückenschmerz in den Industrieländern geradezu epidemisch ausgebreitet. 60 bis 90 Prozent der Bevölkerung leiden zumindest einmal im Leben an einer der Spielarten von Rückenschmerz – 30 bis 50 Prozent davon an Nackenschmerzen, 16 bis 20 Prozent an Schmerzen der Brustwirbelsäule und mehr als 70 Prozent an Schmerzen der Lendenwirbelsäule. Rund 95 Prozent dieser Schmerzphänomene sind “unspezifischer” Natur.

Chirurgie ist keine Standardtherapie

Viele wissenschaftliche Sitzungen und Präsentationen auf dem laufenden EFIC-Kongress befassen sich mit der Behandlung von Rückenschmerz und liefern neue Belege für wirksame Behandlungsoptionen. Auf dem Gebiet der Pharmakologie ist der Gebrauch von NSAIDs und schwachen Opioiden nur kurzfristig empfehlenswert. Der Einsatz von noradrenergen oder noradrenerg-serotonergen Antidepressiva, Muskelrelaxantien und Capsaicin-Pflastern kann erwogen werden, so Prof. van Kleef. „Die multidisziplinäre Rehabilitation umfasst eine Kombination aus körperlichem Training, funktionaler Wiederherstellung und kognitiver Verhaltenstherapie”, so der Experte. „Wir sehen aber, dass die Wirksamkeit solcher Interventionen moderat ist.”

Vorsicht ist gegenüber neuen, minimal-invasiven Verfahren angebracht, wie etwa der direkten Infiltration von Kortikosteroiden in den Spinalkanal, gesteuert durch computer-unterstützte fluoroskopische Bildgebung. „Die wissenschaftlichen Belege für diese Interventionen sind schwach, sie können den Schmerz bei sorgfältig ausgewählten Gruppen von Patienten/-innen aber manchmal reduzieren.”

Chirurgische Eingriffe gegen chronischen Rücken- und Nackenschmerz beruhen auf der Annahme, dass sich der Schmerz lindern oder beseitigen lässt, wenn die symptomatisch schmerzhaften Segmente der Wirbelsäule unbeweglich gemacht werden. Randomisierte Studien, die solche Eingriffe mit konventionellen Therapiemethoden verglichen, zeigen jedoch, dass gängige Rehabilitationsprogramme genauso wirksam sein können wie eine Operation, warnte Prof. van Kleef. „Wirbelfusion oder der chirurgische Totalersatz von Bandscheiben sollte daher nicht als Standardbehandlung gegen chronischen Rückenschmerz eingesetzt werden. Sie sollten nur in Betracht gezogen werden, wenn mindestens zwei Jahre intensiver konservativer und minimal-invasiver Schmerztherapieprogramme den Schmerz und die Behinderung Betroffener nicht erleichtern konnten.”

Neue Klassifikation gefordert

„Es gibt ganz erstaunliche Defizite sowohl in Bezug auf das Verständnis der grassierenden unspezifischen Rückenschmerzen als auch in Bezug auf adäquate Optionen, um mit ihnen umzugehen”, so Prof. van Kleef. „Wir brauchen dringend eine Nomenklatur, die darüber hinausgeht, Rückenschmerz einfach als ‘unspezifisch’ zu klassifizieren. Wir benötigen relevante Sub-Gruppen, um Ort und Ursache des Schmerzes zu beschreiben, wie zum Beispiel Schmerz aufgrund von Bandscheibenproblemen, Schmerz aufgrund der Degeneration der kleinen Gelenke, die die Bewegungen der Wirbelsäule lenken, oder Schmerz aufgrund der Degeneration des Iliosakralgelenks. Das würde das weite und undifferenzierte Feld ‘nichtspezifischer Schmerzen’ in klinische Phänomene unterteilen, die auf dem gleichen Schmerzmechanismus beruhen und daher wahrscheinlich die gleiche Kombination von Behandlungen erfordern werden. Wir erwarten uns davon mehr und bessere Rückenschmerzforschung und zielgenauere Strategien für die Behandlung der Patienten/-innen.”

Europäische Woche gegen Schmerz 2011: Dem Rückenschmerz gewidmet

Die Erarbeitung einer neuen und angemessenen Klassifikation von Rückenschmerz ist daher einer der Eckpfeiler des „Aktionsplans zur Bekämpfung von chronischem Rückenschmerz“, den EFIC auf der diesjährigen Europäischen Woche gegen Schmerz (European Week Against Pain – EWAP, 10. – 14. Oktober 2011) vorstellen wird. Quer durch Europa soll die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den negativen natürlichen Verlauf von Rückenschmerzen gelenkt, über die unterschiedlichen Möglichkeiten der Behandlung und der Prävention von Rückenschmerz informiert und die Wichtigkeit einer verstärkten Erforschung der verschiedenen Mechanismen demonstriert werden, die Rückenschmerz und Behinderung hervorrufen.

„Der Aktionsplan sollte es ermöglichen, in unserem Kampf gegen das am weitesten verbreitete Schmerzsyndrom unserer Zeit in nur wenigen Jahren bedeutende Fortschritte zu erzielen”, so Prof. van Kleef. „Das ist unsere Verantwortung gegenüber den zahllosen betroffenen Menschen und der Gesellschaft als ganzer.”

Über EFIC und den EFIC-Kongress „Pain in Europe“

Der 1993 gegründete Europäische Dachverband nationaler Schmerzgesellschaften (European Federation of IASP® Chapters – EFIC®) ist eine multidisziplinäre Fachgesellschaft auf dem Gebiet der Schmerzforschung und -medizin, der derzeit 35 nationale Mitgliedsgesellschaften („Chapters“) derInternational Association for the Study of Pain (IASP®) angehören. Diese nationalen Mitgliedsgesellschaften in 35 Ländern Europas repräsentieren rund 20.000 Ärzte/-innen, Grundlagenforscher/-innen, Pflegepersonen, Physiotherapeuten/-innen, Psychologen/-innen und andere Gesundheitsexperten, die in der Schmerztherapie und Schmerzforschung tätig sind. Die Ziele von EFIC sind Forschung, Aus- und Fortbildung und klinische Behandlungspraxis zum Thema Schmerz zu fördern, sowie als maßgebliche, unabhängige wissenschaftlich fundierte Informationsquelle zu gesundheitspolitischen Themen zur Verfügung zu stehen, die Schmerz und sein Management betreffen. „Pain in Europe VII“ in Hamburg (21. bis 24. September 2011) ist der 7. EFIC-Kongress seit 1995. EFIC-Kongresse sind zu einem beliebten europäischen Forum geworden, 2011 werden bereits mehr als 4.000 Teilnehmer/-innen verzeichnet. Die Kongressteilnehmer/-innen stammen großteils aus Europa, die Delegierten kommen jedoch insgesamt aus 75 Ländern.

EFIC Pressestelle:
B&K Medien- und Kommunikationsberatung
Dr. Birgit Kofler
Tel. während des Kongresses: +49-40-3569-5310
Tel. nach dem Kongress: +43-1-3194378-13
Mobil: +43-676-6368930
E-Mail: kofler@bkkommunikation.com

Die entsprechende Dokumentation wurde von Prof. Van Kleef in Zusammenarbeit mit seinen Kollegen Dr. Paul Willems, Prof. Dr. Rob Smeets, Dr. Jacob Patijn and Drs. Jose Geurts vom Maastricht Spine Center erstellt.

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