Europäischer Schmerz-Kongress: Schmerz bei älteren Menschen

EFIC 2011: VII. Europäischer Schmerz-Kongress, 21.-24. September 2011, Hamburg Schmerz bei älteren Menschen: Immer häufiger, aber von der Forschung vernachlässigt

Die besonderen Erfordernisse der Schmerzbehandlung älterer Menschen werden häufig unzureichend berücksichtigt – ein schon angesichts der demographischen Veränderungen zunehmendes Problem. Auf dem Europäischen Schmerz-Kongress EFIC in Hamburg forderten Experten/-innen eine größere Beachtung der spezifischen Schmerz-Probleme älterer Menschen, sowie eine deutliche Erhöhung der Forschungsausgaben für die Entwicklung neuer Ansätze der Prävention und Behandlung in diesem Bereich.

Hamburg, 22. September 2011 – „Mit chronischem Schmerz umzugehen ist eine der wesentlichen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft, doch dem wird von der Forschung der öffentlichen Hand, den Förderungsinstitutionen und den Entscheidungsträgern/-innen des Gesundheitswesens bei weiten nicht ausreichend Rechnung getragen”, warnte Prof. Dr. Kris Vissers (Nijmegen, NL) heute auf dem Europäischen Schmerz-Kongress EFIC 2011 in Hamburg. „In der Altersgruppe ab 65 Jahren leiden 50 Prozent derer, die noch selbständig leben, und 80 Prozent der Bewohner/-innen von Pflegeheimen an chronischen Schmerzen. Ihre Zahl dürfte sich bis 2050 um 70 Prozent erhöhen. Im gleichen Zeitraum wird die Altersgruppe 80+ noch stärker, nämlich um 170 Prozent, anwachsen. Wenn alles so bleibt, wie es derzeit ist, wird jedoch ein Mangel an Wissen, ein Mangel an Forschung und ein Mangel an Mitteln, um dieses Wissen weiter zu verbreiten, zu Unter- und Fehlbehandlungen dieser Altersgruppen führen und der Gesellschaft hohe Lasten aufbürden.”

Alter und Multimorbidität: Herausforderungen für die Schmerzbehandlung

Im Vergleich zu jüngeren Schmerzpatienten/-innen wird die Behandlung älterer Menschen häufig durch eine Reihe zusätzlicher altersbedingter Faktoren und deren Zusammenspiel verkompliziert, wie viele auf dem EFIC-Kongress präsentierte Studien zeigen. Einige dieser speziellen Herausforderungen:

• Gebrechlichkeit kann zu einer Vielzahl von Schmerzherden im ganzen Körper führen, wobei jeder eine unterschiedliche Ursache haben kann. Weiters leiden viele gebrechliche Menschen an kognitiven Störungen oder Problemen, sich verständlich zu machen. Das hindert sie daran, ihre Schmerzen verständlich zu kommunizieren, was zur hohen Rate an Unterdiagnostizierung und Unterbehandlung beiträgt.

• Multimorbidität, das gleichzeitige Vorhandensein von beispielsweise Diabetes, Herzerkrankungen und rheumatoider Arthritis, verbunden mit psychologischen Faktoren, welche die Schmerzwahrnehmung beeinflussen – etwa Einsamkeit oder Depression – erschweren es, einem spezifischen Schmerzzustand die richtige Ursache zuzuordnen.

• Polypharmazie – die durch Multimorbidität bedingte Einnahme mehrerer Medikamente – birgt höhere Risiken für Komplikationen und Nebenwirkungen in sich.

• Der Alterungsprozess führt zu funktionalen Veränderungen des Stoffwechsels insgesamt sowie einzelner Organe wie etwa der Leber oder der Nieren, die das Risiko von Komplikationen und Nebenwirkungen noch weiter erhöhen.

• Unzureichende Schmerzforschung an älteren Menschen führt zu Wissenslücken, die wiederum bedeutende schmerzbezogene Versorgungsdefizite älterer Menschen nach sich ziehen – mit der Folge einer schlechteren Lebensqualität Betroffener.

Ältere aus Arzneimittelstudien ausgeschlossen – Juristische Gefahrenzone

„Sowohl einzelne Medikamente als auch die komplexen Wechselwirkungen der Polypharmazie müssten eingehend erforscht werden, um Ärzten/-innen eine evidenzbasierte Grundlage für ihre Entscheidungen zu geben. Nur so kann man für jede/-n Patienten/-in das richtige Gleichgewicht zwischen Nutzen und möglichen Risiken und Nebenwirkungen finden”, betonte Prof. Vissers. „Doch das Gegenteil geschieht. Personen über 70 oder 75 Jahren werden aus den meisten Studien über die Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten ausgeschlossen, und Belege über das komplexe Wechselspiel gleichzeitig eingenommener Arzneimittel gibt es so gut wie gar nicht. Ärzte/-innen, die älteren Menschen solche Medikamente verschreiben, werden daher über die Konsequenzen im Dunkeln gelassen. In vielen Ländern gehen sie damit rechtliche Risiken ein, weil sie bei einer Off-Label-Verschreibung von Medikamenten für allfällige Komplikationen und unerwünschte Wirkungen haftbar gemacht werden können. Angesichts der stetig wachsenden Schmerzbelastung dieser Bevölkerungsgruppe ist dies eine unerträgliche Situation.”

Erhöhte Forschungsmittel, chronischer Schmerz als eigenständiges Krankheitsbild

„Wir appellieren alle am Gesundheitswesen beteiligte Institutionen, hier mehr spezialisierte Forschung zu ermöglichen”, so der Experte. „Wir brauchen viel mehr Geld, um die Vorbeugung und Behandlung chronischen Schmerzes bei älteren Menschen zu untersuchen. Das setzt auch voraus, chronischen Schmerz – vor allem bei Älteren – als ein eigenständiges Krankheitsbild anzuerkennen. Obwohl längst wissenschaftlich belegt ist, dass chronischer Schmerz zu Veränderungen im Gehirn führt, die von seiner ursprünglichen Ursache unabhängig sind und den gesamten Organismus in Mitleidenschaft ziehen, wird er weithin immer noch als ‚nur ein Symptom‘ einer Grunderkrankung angesehen. Das ist wesentlicher Grund dafür, warum Entscheidungsträger/-innen die Erfordernisse auf diesem Gebiet bis heute vernachlässigen.”

Auch wer unter Schmerzen leidet, sollte in Bewegung bleiben

Auch wenn viele wichtige Nachweise noch nicht verfügbar sind, konnten in den letzten Jahren doch bedeutende Einsichten zu Vorbeugung und Behandlung von chronischem Schmerz betagter Menschen gewonnen werden. „Wir haben erkannt, dass chronischer Schmerz ein multidimensionales und multikausales Phänomen ist, das eine multidisziplinäre Herangehensweise erfordert”, so Prof. Vissers. „Zunächst sollten Mediziner/-innen und Pflegepersonen imstande sein, Schmerz non-verbal, durch beobachtende Methoden, zu erkennen, da viele betagte Menschen ihre Probleme nicht mehr artikulieren können. Wenn Schmerz einmal entdeckt wurde, sollten Schmerzmedikamente umsichtig verordnet werden, zusammen mit sozialer und psychologischer Unterstützung, die den Patienten/-innen auch das vermitteln sollte, was ich eine spirituelle Dimension nennen würde – ihnen zu helfen, in ihrem Leben noch einen Sinn und eine Rolle in der Gesellschaft zu finden.”

„Ein weiterer wichtiger Aspekt ist körperliches Training”, so der Experte. „Viele ältere Menschen, die an chronischem Rückenschmerz leiden, werden noch immer einfach ins Bett gelegt – mit der Folge, dass sie daraus nie wieder aufstehen. Schmerz ist kein Grund, körperliche Aktivität aufzugeben, sondern sollte ein Anreiz für mehr davon sein. Je aktiver Patienten/-innen sind, desto besser ist auch die Schmerzkontrolle. Meine Botschaft lautet daher: Bleiben Sie weiter in Bewegung, auch wenn Sie Schmerzen haben, gehen Sie spazieren, schwimmen Sie oder fahren Sie Rad. Ihre Schmerzkontrolle wird sich verbessern, und Sie beugen Ihrem weiteren Verfall vor.”

Schmerz sichtbar zu machen ist eine der wesentlichen Aufgaben der EFIC, betonte Prof. Vissers. „Zusammen mit mehr als 100 wissenschaftlichen und Patientenorganisationen starten wir auf allen europäischen Ebenen einen neuen Aktionsplan (“Roadmap for Action”), der im Rahmen des Programms ‚Gesellschaftliche Relevanz von Schmerzen – Societal Impact of Pain‘ (www.sip-meetings.org) entwickelt wurde. Die Umsetzung dieses Aktionsplans auch im Europäischen Parlament und den nationalen Gesundheitsministerien aller europäischen Staaten sollte dafür sorgen, dass Schmerz in Zukunft keine derartige Bürde für Patienten und Gesellschaft mehr darstellt.”

Über EFIC und den EFIC-Kongress „Pain in Europe“

Der 1993 gegründete Europäische Dachverband nationaler Schmerzgesellschaften (European Federation of IASP® Chapters – EFIC®) ist eine multidisziplinäre Fachgesellschaft auf dem Gebiet der Schmerzforschung und -medizin, der derzeit 35 nationale Mitgliedsgesellschaften („Chapters“) derInternational Association for the Study of Pain (IASP®) angehören. Diese nationalen Mitgliedsgesellschaften in 35 Ländern Europas repräsentieren rund 20.000 Ärzte/-innen, Grundlagenforscher/-innen, Pflegepersonen, Physiotherapeuten/-innen, Psychologen/-innen und andere Gesundheitsexperten, die in der Schmerztherapie und Schmerzforschung tätig sind. Die Ziele von EFIC sind Forschung, Aus- und Fortbildung und klinische Behandlungspraxis zum Thema Schmerz zu fördern, sowie als maßgebliche, unabhängige wissenschaftlich fundierte Informationsquelle zu gesundheitspolitischen Themen zur Verfügung zu stehen, die Schmerz und sein Management betreffen. „Pain in Europe VII“ in Hamburg (21. bis 24. September 2011) ist der 7. EFIC-Kongress seit 1995. EFIC-Kongresse sind zu einem beliebten europäischen Forum geworden, 2011 werden bereits mehr als 4.000 Teilnehmer/-innen verzeichnet. Die Kongressteilnehmer/-innen stammen großteils aus Europa, die Delegierten kommen jedoch insgesamt aus 75 Ländern.

Quellen: EFIC Abstracts T286 EXPLAINING PAIN: THE CONSTRUCTION OF PERSISTENT PAIN IN OLDER AGE; T288 DEMOGRAPHIC, PSYCHOLOGICAL AND SOCIAL CHARACTERISTICS OF THE OUTPATIENT POPULATION OF ELDERLY SUFFERING CHRONIC PAIN; T515 KNOWLEDGE OF CARETAKERS ABOUT PAIN OF LONG-STAY PATIENTS WITH COGNITIVE IMPAIRMENT; F285 EPIDEMIOLOGICAL, CROSS-SECTIONAL, MULTICENTER STUDY TO DESCRIBE THE CHARACTERISTICS OF CHRONIC PAIN AND ITS TREATMENT IN INSTITUCIONALIZED ELDERLY PATIENTS. DOLORES STUDY; F403 AGE MODERATES THE RELATIONSHIP BETWEEN PAIN AND COGNITION; S283 EFFECTIVENESS OF AN INTEGRATED PAIN MANAGEMENT PROGRAM ON OLDER PERSONS AND STAFF IN NURSING HOMES

EFIC Pressestelle:
B&K Medien- und Kommunikationsberatung
Dr. Birgit Kofler
Tel. während des Kongresses: +49-40-3569-5310
Tel. nach dem Kongress: +43-1-3194378-13
Mobil: +43-676-6368930
E-Mail: kofler@bkkommunikation.com

Weiteres Bildmaterial